Bulletin Nr. 45; Juni 2005
Heimat ist nicht durch Behaglichkeit definiert (Max Frisch)
Wenn Freundschaften illegal werden
Schweizerinnen und Schweizer, die das Pech haben, sich
mit einem Menschen ohne gültige Ausweispapiere anzufreunden,
werden oft auf brutale Weise mit den geltenden
Ausländergesetzen konfrontiert. Denn Zuneigung und Liebe
sind Emotionen, auf die der Staat keine Rücksicht nimmt.
Wenn die vom Parlament geplanten Verschärfungen in Kraft
treten, werden Beziehungen mit Menschen ohne gültige
Papiere noch schwieriger.
Im Herbst 2004 lernt die Schweizerin Mirjam* den jungen
Algerier Ahmed* kennen. Ihre Beziehung wird Anfang März
2005 unterbrochen: Ahmed wird verhaftet, da er von der
Solothurner Fremdenpolizei zur Fahndung ausgeschrieben ist
– nicht etwa wegen strafbarer Handlungen, sondern zwecks
Rückschaffung in sein Heimatland. Als Ahmed Mirjam telefonisch
über die Festnahme informiert, fügt ein Polizist an, er
könne ihr noch nicht sagen, welche Konsequenzen dies für sie
als Paar habe.
Danach hört Mirjam zwei lange Wochen nichts. Als sie bei
der Polizei nachfragt, präsentiert man ihr zwei Möglichkeiten:
Entweder Ahmed sei schon nach Algerien gebracht
worden, oder aber auf freiem Fuss – man wisse das halt auch
nicht.
Durch Zufall erfährt sie kurz darauf, wo sie Ahmed finden
kann: Im Ausschaffungsgefängnis von Solothurn. Besuchen
darf sie ihn erst, nachdem sie seinen Namen fehlerfrei aufgeschrieben,
ihre Identitätskarte abgegeben und die Sicherheitskontrolle
passiert hat.
«Wieso vertrauen Sie einem Algerier mehr als uns?»
Drei Wochen später kommt erneut ein verzweifelter Anruf des
Freundes: Er müsse weg und man sage ihm nicht, wohin. Erschreckt
realisiert Mirjam, dass der folgende Tag ein Donnerstag
ist. Der Donnerstag ist unter Algeriern berühmtberüchtigt.
Dann finden jeweils die Ausschaffungen von Genf
nach Algier statt.
Ihre Befürchtung bewahrheitet sich: Ahmed wird nach
Genf gebracht, doch er und ein Kollege weigern sich auszureisen:
In Algerien hat er keinen Ort, wo er hingehen könnte:
Seine Eltern sind tot, und seine Schwestern so arm, dass sie
keinen weiteren Menschen durchbringen können, schon so
essen die Familien nur einmal am Tag.
Nach einem letzten Anruf aus Genf hört Mirjam nichts
mehr von ihrem Freund. Tage später teilt sein Kollege ihr mit,
dass ihre Ausschaffung habe verhindert werden können; der
Pilot habe sich geweigert, sie mitzunehmen.
Doch in Solothurn ist Ahmed nicht zu finden. Die Polizisten
erzählen Mirjam, er sei ausgeschafft worden. Ein Wärter fragt
nochmals nach und bestätigt dann: «Er ist nicht mehr da.
Wieso schenken Sie einem Algerier mehr Glauben als uns?»
Ein zweiter Pilot weigert sich
Wiederum zwei Wochen später erhält Mirjam einen Brief von
Ahmed, diesmal aus dem Gefängnis Olten. Dort wird der
Ausschaffungshäftling strenger als ein Untersuchungsgefangener
gehalten; er darf nicht telefonieren, er bekommt keine
Arbeit, hat nur eine Stunde Hofgang pro Tag und seine Post
wird kontrolliert.
Ein erneuter Ausschaffungsversuch, diesmal über Zürich
und mit Helm und Handschellen, schlägt fehl. Ahmed schreit
so laut, dass der Pilot sich ebenfalls weigert, ihn mitzunehmen
und nach Lyon zu bringen.
Doch die Angst bleibt. Sowohl in Olten als auch im Basler
«Bässlergut» und in anderen Schweizer Ausschaffungsgefängnissen
leiden die Häftlinge Woche für Woche unter
enormem Stress: Dann nämlich, wenn jener Wochentag naht,
an dem normalerweise die Ausschaffungen stattfinden, und
niemand weiss, wer als Nächster in der vorhergehenden
Nacht gepackt und fortgeschafft wird.
«Du frei – geh!»
Für Ahmed kommt die Wende plötzlich: Eines Morgens wird
er aufgefordert, seine Sachen zusammenzupacken. Auf seine
Frage, was mit ihm geschehe, bekommt er keine Antwort.
Später wird er mit den Worten: «Du frei – geh!» vor die Tür
gesetzt. Ohne Papiere. So ist er nach zweieinhalb Monaten
Haft und zwei missglückten Ausschaffungsversuchen ein
Sans-Papier ohne Perspektiven geworden.
Das Beispiel von Mirjam und Ahmed ist eines von zahlreichen,
von denen augenauf in letzter Zeit erfahren hat. Die
Geschichten verlaufen meist recht ähnlich: Zermürbende
Gefangenschaft, fehlschlagende Ausschaffungsversuche und
immer wieder die Angst, dass es einen doch noch trifft.
augenauf ist ein Fall bekannt, bei dem ein junger Nordafrikaner
seinen verzweifelten Widerstand gegen die Ausschaffung
mit unzähligen blauen Flecken und einer gebrochenen
Rippe bezahlte. Ein anderer sass monatelang im
Gefängnis, obwohl er mit einer Schweizerin ein Kind hat und
die beiden heiraten wollen.
Diese und andere Beispiele werden mit der Verschärfung
des Ausländerrechts zunehmen. Auf ganz legale Weise werden
die existenziellsten Menschenrechte (zum Beispiel das
Recht auf körperliche Unversehrtheit oder das Recht auf
Familienleben) ausgehebelt.
*Namen von der Redaktion geändert
augenauf Basel
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