Bulletin Nr. 27; März 2000
Bundesgericht legitimiert Todesschuss auf Flüchtenden
Einmal mehr hat das Schweizerische Bundesgericht gezeigt, was es
unter «Verhältnismässigkeit» versteht. Es erklärt die tödliche Schussabgabe
eines Polizisten aus dreissig Metern Entfernung in den Rücken eines
unbewaffneten Flüchtenden als verhältnismässig. augenauf hatte damals über
die Umstände des Todes von H.F. berichtet und eine Todesanzeige
veröffentlicht.
Am 27. März 1996 um 4 Uhr morgens versucht der 25-jährige Libanese H.F. aus
dem Bezirksgefängnis Affoltern am Albis zu fliehen, wo er in
Untersuchungshaft war. Nach einem Gerangel mit einem Polizisten gelingt es
ihm davonzurennen. Der Polizist schiesst dem Flüchtenden aus 30 Meter
Entfernung in den Rücken. H.F. stirbt sofort.
Der Polizeibeamte gab zu Protokoll: «Ich denke, ich habe die Waffe nicht
ruhig gehalten, da ich aufgeregt war und ausser Atem war vom Gerangel und
vom Rennen.»
Das Bundesgericht hat nun (gemäss Tages-Anzeiger vom 7.1.) in einer
Erklärung dargelegt, weshalb der Todesschuss rechtmässig gewesen sei.
Obwohl das Bundesgericht nicht ausser Atem war und genügend Zeit hatte, um
in Ruhe zu entscheiden, muss aber auch dieser Entscheid als ein Fehlschuss
bezeichnet werden. Kann ein Schütze, der ausser Atem ist, zielen? War der
Polizist überhaupt befugt, über Leben und Tod des Häftlings zu entscheiden?
Beide Fragen sind wohl zu verneinen. Der Polizist hat in diesem Moment
falsch entschieden.
Der Tod in Zeiten der Verhältnismässigkeit
Im vorliegenden Fall wich das Bundesgericht ausserdem von seinem eigenen
Präzedenzentscheid von 1985 ab. Damals hatte das Bundesgericht in einem
ähnlichen Fall den Waffeneinsatz eines Berner Polizisten vom 29. Februar
1984 für unverhältnissmässig gehalten. (BGE 111 IV 113 ff.) 1984 und 1996
liegen ähnliche Umstände vor: In beiden Fällen waren weder der Polizist
noch andere Menschen an Leib und Leben gefährdet. In beiden Fällen waren
die fliehenden Männer nicht bewaffnet. Sie sind bloss davongerannt.
Im Fall von 1985 stellte das Bundesgericht sogar fest: «[...] das Interesse
an der Festnahme eines entwichenen Strafgefangenen, der unbewaffnet ist und
nicht als gefährlich erscheint, wird in der Regel einen
Schusswaffengebrauch mit Gefahr für Leib und Leben (des Betroffenen oder
anderer Personen) nicht rechtfertigen.» (BGE 11 IV 113 S. 118). Genau diese
Rechtsprechung wäre auch im vorliegenden Fall der Erschiessung von H.F.
angebracht. Stattdessen scheint es aber darauf anzukommen, wer das Opfer
ist. Hätte das Bundesgericht anders entschieden, wenn der flüchtende
Häftling ein Schweizer gewesen wäre?
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