Die bisher gefällten Entscheide stellen in zweifacher Hinsicht einen radikalen Paradigmawechsel dar. Zum einen widerspricht die Schweiz der bisher immer öffentlich vertretenen Position, dass diplomatische Zusicherungen kein brauchbares Mittel zur Verhinderung von Folter und Misshandlung sind. Darauf wird weiter unten noch ausführlicher eingegangen.
Die bisherigen Entscheide des Bundesamtes für Justiz und des Bundesamtes für Migration (BFM), die bezüglich der Einschätzung der diplomatischen Zusicherungen auch vom Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) gestützt wird, lassen nur eine Interpretation zu: Es wurde ein politischer Entscheid gefällt, versuchsweise Auslieferungen von Mitgliedern der in der Türkei verbotenen Organisationen durchzuführen. Offensichtlich steht die Schweizer Regierung unter grossem Druck, ihre Politik gegenüber der kurdischen Befreiungsbewegung in der Türkei zu ändern. Diesem Druck wird Mehmet Esiyok geopfert. Nach diesem Grundsatzentscheid wurden Begründungen für diesen Entscheid zusammengebastelt. Die Folgen sind verschiedentlich sichtbar. Zuerst zu den Begründungen der behördlichen Entscheide:
- Die Tatsache, dass die Türkische Botschaft erst im dritten Anlauf eine für das EDA befriedigende diplomatische Zusicherung abgegeben hat, wird positiv bewertet. Dies zeige den „ernsthaften Willen zur Einhaltung“.
- Obwohl die Anwälte in beiden Verfahren den Beizug der relevanten Akten aus den türkischen Ermittlungsverfahren verlangt haben, wird dies verweigert. Dies obschon in den letzten Jahren diverse Auslieferungsbegehren der Türkei genau wegen in solchen Akten aufgetretenen Ungereimtheiten abgewiesen wurden.
- Die Türkei führt 30 vorgeworfene Straftaten an, aufgrund derer die Auslieferung erfolgen soll. 26 davon sind so allgemein beschrieben, dass nicht festgestellt werden kann, um was für ein Delikt es sich überhaupt konkret handelt. Ausser einem Vorwurf gelten die übrigen als verjährt. Trotz diesem wirren Sammelsurium wird ausgeschlossen, dass die Türkei eine politische Motivation haben könnte, die zum Auslieferungsbegehren geführt hat.
- Auch der Tatsache, dass in einem Fall eine Einvernahme unter Zwang erwähnt wird stärkt die Glaubwürdigkeit der Türkei, ist aber kein Indiz für eine potentielle Gefährdung nach Auslieferung.
- Auch dass andere Europäische Länder Auslieferungen in ähnlichen Fällen immer verweigert haben, lässt sich positiv darstellen: Es ist kein Fall bekannt, bei dem solche Zusicherungen missachtet wurden. Dazu hatte die Türkei ja auch keine Gelegenheit.
Dass nicht neutrale Erwägungen zu den Entscheiden geführt haben, sondern das Prozedere umgekehrt lief, zeigen noch deutlicher die Auslassungen:- Auf ein offizielles Monitoring wird verzichtet. Laut der Direktion für Völkerrecht, die an der Ausarbeitung der diplomatischen Zusagen beteiligt war, wurde kein Einverständnis für ein Monitoring verlangt, weil bekannt war, dass die Türkei nicht zustimmen würde. Die Zusicherungen wurden der Bereitschaft der Türkei angepasst, gewisse Bedingungen zuzulassen. Dies wurde nun vom Bundesgericht korrigiert.
- Das ganze Prozedere der EU-Annäherung soll eine zusätzliche Garantie sein, dass die Türkei die Zusicherungen einhalten wird. Dass dieses Land aber unter gewissen Umständen bereit ist, Sanktionen der EU in Kauf zu nehmen, scheint im EDA nicht bekannt zu sein.
- Mit keinem Wort wird erwogen, ob sich die politische Situation in der Türkei, zB. bei einer Verzögerung der EU-Integration, so ändern könnte, dass den eingegangenen Verpflichtungen nicht mehr nachgelebt wird.
- Vollkommen unter den Tisch gewischt wird die Tatsache, dass diplomatische Zusicherungen dieser Art generell sehr umstritten sind. Eine ganze Reihe internationaler Menschenrechtsinstitutionen haben sich allein dieses Jahr explizit gegen die Anwendung dieses Mittels ausgesprochen. Obwohl dies der Politischen Abteilung 4 des EDA, die sich unter anderem mit Menschenrechtsfragen befasst, bekannt ist, scheint diese Tatsache keine Erwähnung Wert zu sein. Zu diesem zentralen Punkt weiter unten mehr.
Vor allem die Tatsache, dass im letzten halben Jahr haben zwei Bundesräte beim Besuch in der Türkei gegenüber der türkischen Presse die Auslieferung von Mehmet Esiyok in Aussicht gestellt haben, obwohl die juristischen Verfahren noch hängig sind, spricht eine deutliche Sprache: Um einen politischen Entscheid durchzuführen wird einfach alles nach Gusto zurechtgebogen oder ignoriert. Mehmet Esiyok wird der Staatsräson geopfert.Das Bundesgericht hat die Beschwerde gegen den Auslieferungsentscheid am 23. Januar 2007 abgelehnt. Auch dieser Entscheid ist abstrakt und technisch. Es wird weder auf die konkrete Situation in der Türkei, die menschenrechtswidrige Gefährdung für PKK-Kader im Gefangenschaft, noch die Warnungen von internationalen Organisationen vor diplomatischen Zusicherungen eingegangen. Amnesty International hatte dazu eine Stellungnahme verfasst, und Human Rights Watch einen offenen Brief an den Bundesrat gesandt. Zwar verlangt das Bundesgericht ein Monitoring durch Botschaftsangehörige, ignoriert aber das Dilemma dieses Konstruktes: Sobald ein Angehöriger der Schweizer Botschaft Folter oder unmenschliche Behandlung feststellt, hat sich die Schweiz der Missachtung der internationalen Konventionen schuldig gemacht. Das Interesse, dies öffentlich bekannt zu machen ist nicht vorhanden. Das Bundesgericht hat den zukünftigen Bock zum Gärtner gemacht.
Es gibt eine Tendenz, mit diesen Zusicherungen Auslieferungen von Terrorverdächtigen oder Staatsfeinden an Staaten zu ermöglichen, die bekanntermassen systematisch oder sporadisch Folter und Misshandlungen einsetzen oder zulassen. Diese Praxis wird weitherum massiv kritisiert, unter anderem von Amnesty International, Human Rights Watch, dem UN-Hochkommissariat für Menschenrechte, dem UN-Sonderberichterstatter für Folter und dem Hochkommissar für Menschenrechte des Europarates. Diese alle rufen dazu auf, keine Auslieferungen aufgrund solcher Zusicherungen durchzuführen. Wir empfehlen zu diesem Thema die Lektüre von Human Rights Watch, «“Diplomatische Zusicherungen“ gegen Folter – Fragen und Antworten». Normalerweise bestreiten Staaten, dass sie Folter anwenden. Dies nachzuweisen ist jedoch je nach angewandter Methode nicht einfach. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Opfer nach Erleiden der Folter dies mitteilen. Erstens stehen sie selbst noch unter Drohung weiterer Folter, oder es wird mit Misshandlung von Familienmitgliedern und Freunden gedroht. Durch Kontrollbesuche können sich Angehörige sogar einer erhöhten Gefahr von Repressalien aussetzen. Die Zusicherungen sind auch nicht rechtlich bindend, es kann nicht rechtlich gegen einen Bruch der Zusicherung vorgegangen werden. Auch ein Monitoring des Entsendestaates wird als überaus problematisch angesehen, da dieser Staat genauso wenig Interesse daran hat festzustellen, dass er eine Person der Folter ausgeliefert hat.
Zwei Fragen stehen im Zusammenhang dieses Verfahrens zentral im Raum.
1. Welchen Stellenwert haben Konventionen zum Schutz der persönlichen Unversehrtheit im Rahmen der Terrorismus-Bekämpfung?
2. Werden diplomatische Zusicherungen das übliche Mittel, um Auslieferungen unter Umgehung des absoluten Schutzes vor Folter und unmenschlicher Behandlung oder Bestrafung trotzdem in Staaten durchzuführen, die die Einhaltung der Menschenrechte nicht gewährleisten?
Mit ihrem Vorgehen bezieht die Schweiz in beiden Fragen klar Position für eine Abschwächung der entsprechenden Verpflichtungen, jedes Individuum vor Folter und Misshandlung zu schützen. Sie setzt damit nicht nur ihren eigenen Ruf aufs Spiel, sondern untergräbt aktiv die Positionen der genannten internationalen Menschenrechtsinstitutionen.