2016 wird der Schwarze Hervé Mandundu von Beamt:innen der Kantonspolizei Waadt vor seiner Haustür erschossen. 2017 stirbt der Schwarze Lamin Fatty auf dem Polizeiposten La Blécherette nach einer Kette folgenschwerer Fehler und durch Ignoranz der Behörden und des medizinischen Personals. 2018 stirbt Mike Ben Peter im Rahmen seiner Verhaftung an einem Herzstillstand. 2021 erschiesst die Kantonspolizei Waadt Roger Nzoy am Bahnhof Morges. Vier Schwarze Männer, allesamt gestorben durch die Hände bzw. im Gewahrsam der Waadtländer Polizei. Der Tod von Lamin Fatty wurde bis anhin in den Medien noch wenig aufgegriffen. augenauf Bern erhielt nun Einsicht in die Verfahrensakten.
Die Aufarbeitung zeigt: Die Geschichte von Lamin Fatty ist mehr als nur tragisch. Und sein Tod hätte verhindert werden können. Lamin Fatty wurde verwechselt, fälschlicherweise auf den Polizeiposten La Blécherette (VD) gebracht, medizinisch falsch beurteilt und nicht ernst genommen und starb schliesslich unter ständiger Videoüberwachung an einem 90-minütigen epileptischen Anfall. Das war am 24. Oktober 2017. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren 2023 ohne Verurteilung ein. Die Angehörigen von Lamin Fatty legten gegen diesen Entscheid Beschwerde beim Kantonsgericht Waadt ein und waren damit erfolgreich: Das Verfahren gegen einen der Polizeibeamten muss wieder aufgerollt werden …
Was genau geschah im Oktober 2017? Am Abend des 22. Oktober wollte Lamin Fatty am Bahnhof Lausanne den Zug nach Vallorbe nehmen. Gleichzeitig hatten vier Beamt:innen der Grenzwache die Aufgabe, die Züge zu kontrollieren. Um ca. 20 Uhr zeigte ein Drogensuchhund bei Lamin Fatty einen Fund an, weshalb die Hundeführerin ihn aufforderte, sich auszuweisen. Er identifizierte sich mit einer kantonalen Nothilfebestätigung, darin enthalten waren Name, Geburtsdatum, Herkunft, Unterkunft sowie N-Nummer (Nummer des Asylausweises) und ZEMIS-Nummer (Personenidentifikator ausländischer Staatsangehöriger aus dem Zentralen Migrationssystem). Lamin Fatty wurde für die weitere Kontrolle auf den Polizeiposten am Bahnhof gebracht. Begründet wurde diese Mitnahme durch die Beamt:innen damit,
dass sie aufgrund der Nothilfebestätigung von einem illegalen Aufenthalt ausgingen. Zudem wurde festgehalten, man habe einen Verstoss gegen das Betäubungsmittelgesetz vermutet.
Im Rahmen der körperlichen Untersuchung von Lamin Fatty fand der Beamte der Grenzwache 1,2 g Marihuana in dessen Socken – eine Menge, die eine weitere Festhaltung bzw. eine Inhaftierung in keinem Fall rechtfertigt.
Verheerende unkorrekte Identifizierung Zeitgleich zu der körperlichen Untersuchung liess die andere Grenzwächterin den Namen «Lamin Fatty» durch zwei Fahndungsdatenbanken laufen und fand einen Hit in RIPOL, dem nationalen Fahndungssystem der Schweiz. Dort stand, dass im Kanton Luzern eine Person namens Lamin Fatty zwecks Ausschaffung nach Italien gesucht werde. Sie glich weder Lamin Fattys N-Nummer noch seine ZEMIS-Nummer, welche eine eindeutige Identifizierung erlaubt hätten, mit derjenigen des Treffers ab. Später gab sie zu Protokoll, dass sie die Weisungen zur korrekten Identifizierung nicht nennen könne, aber persönlich der Meinung sei, die N-Nummer erlaube keine zuverlässige Identifizierung. Nach Lamin Fattys Tod rund 36 Stunden später im Gefängnis La Blécherette, wurde festgestellt, dass diese Identifizierung falsch war. Der Verstorbene war nicht derjenige, der im RIPOL ausgeschrieben war. Zwar hatten beide Personen den gleichen Namen und auch das gleiche Geburtsdatum, aber Letzteres war bei ihnen, wie bei vielen anderen Personen, durch die Behörden auf den 1. Januar des Geburtsjahres gesetzt worden, weil das genaue Geburtsdatum nicht einwandfrei belegt werden konnte. Wie sich hier zeigte, fördert diese Praxis Verwechslungen. Zwar stammten die beiden Personen aus demselben Herkunftsland, hatten jedoch unterschiedliche ZEMIS- bzw. N-Nummern. Bei einer korrekten Identifizierung hätte der Tod von Lamin Fatty verhindert werden können, da er nicht im Gefängnis gelandet wäre. Mit der Unterlassung der Überprüfung der genannten Identifikationsmerkmale handelte die Grenzwache grobfahrlässig und in Missachtung der gesetzlichen Bestimmungen zur Identifikation von Drittpersonen. Die beiden Beamt:innen der Grenzwache wurden später vom Militärgericht wegen fahrlässiger Nichtbefolgung von Dienstvorschriften zu einer Busse verurteilt. Die Verwechslung wurde aber nicht als kausal für den späteren Tod erachtet, weshalb auch eine strafrechtliche Verantwortung der Beamt:innen für den Tod zu keinem Zeitpunkt in Betracht gezogen wurde. Wir sehen das anders: Diese Verwechslung stand am Anfang einer Kette folgenschwerer Unterlassungen und Dienstverletzungen, welche schliesslich zum Tod von Lamin Fatty führten.
Trotz Sprachbarrieren keine Übersetzung
Lamin Fatty wurde nun also offiziell festgehalten. Die Grenzbeamt:innen verantworteten nun eine weitere Unterlassung: Sie klärten nicht wie vorgeschrieben ab, ob die festgehaltene Person regelmässig Medikamente einnehmen muss. Für Lamin Fatty traf das zu: Er litt an Epilepsie und musste täglich zweimal Antiepileptika zu sich nehmen – morgens um 8 Uhr und abends um 20 Uhr. Die letzte Dosis dieses für ihn lebenswichtigen verschriebenen Medikaments konnte er aufgrund der Inhaftierung nicht einnehmen. Nach Durchsicht der Akten bleibt unklar, weshalb dies vonseiten der Grenzwache nicht abgeklärt wurde. Aus den Akten geht hervor, dass die Kommunikation erschwert war: Die Beamt:innen zogen eigene Rückschlüsse oder interpretierten Verhalten, anstatt Fakten abzuklären. Lamin Fatty sprach kein Französisch. Die Kommunikation beschränkte sich daher auf etwas Englisch und Gesten. Das Hinzuziehen irgendeiner Form von Übersetzungshilfe wurde aber anscheinend nie ernsthaft in Betracht gezogen.
Lamin Fatty teilte der Grenzwache in der Zelle mit, dass er Kopfschmerzen habe, und fragte nach einer Schmerztablette. Er vermittelte, dass es ihm nicht gut gehe, und übergab sich einige Zeit später. Er legte sich hin, schien zu schlafen, drehte sich auf den Bauch, griff sich an den Kopf, stöhnte, beklagte sich und übergab sich erneut mehrfach. Die Frage eines Grenzbeamten, ob man einen Krankenwagen rufen solle, bejaht er. Daraufhin wurde die Ambulanz gerufen. Zu diesem Zeitpunkt war Lamin Fatty seit ungefähr zwei Stunden ohne Antiepileptikum.
Medizinische Behandlung: fahrlässig oder schlicht rassistisch?
Die Beamt:innen der Grenzwache begleiteten Lamin Fatty in die Notaufnahme des Universitätsspitals des Kantons Waadt (CHUV). Laut den Akten wurde er bei seiner Aufnahme in eine sogenannte Sicherheitsbox gebracht, da ein Verdacht auf infektiöse Hirnhautentzündung bestand. Die Kommunikation war weiterhin erschwert und wurde durch das Tragen von medizinischen Masken noch schwieriger. Gegenüber dem Rettungssanitäter konnte Lamin Fatty noch erklären, dass er kürzlich am Kopf operiert wurde. Im Spital konnte er teilweise gar nicht mehr sprechen und versuchte vor allem, mit Gesten zu kommunizieren. In einem ersten Gespräch mit dem medizinischen Personal zeigte Lamin Fatty nach oben in Richtung Stockwerk der Neurologie und schrieb auf ein Blatt Papier: «13th floor». Der Hinweis wurde so gedeutet, dass er dort bereits behandelt worden war – was auch stimmte. Pflegefachkräfte und Ärztinnen fragten sich, ob es eine:n Übersetzer:in brauchte, kamen aber zum Schluss, dass dies nicht nötig sei. Eine fundierte Anamnese fand unter anderem auch aufgrund der erschwerten Kommunikation nicht statt. Dies, obwohl die behandelnden Ärzt:innen darüber Bescheid wussten, dass Lamin Fatty seit Juni 2017 in der neurologischen Abteilung des CHUV behandelt wurde. Er litt an einer arteriovenösen Malformation auf der rechten Kopfseite und an Epilepsie. Aufgrund seiner Malformation war er fünf Wochen vor seiner Inhaftierung am Kopf operiert worden und seither musste er zweimal täglich Medikamente gegen Epilepsie einnehmen. Aus den Akten ist ersichtlich, dass beide behandelnden Ärzt:innen seine Patientenakten studierten und während der Behandlung vom 22. und 23. Oktober sehr wohl über seine Vorgeschichte im CHUV – und somit über seine Epilepsie – informiert waren. Als es darum ging, abzuklären, ob Lamin Fatty seine Antiepileptika zu sich genommen hatte, zeigte eine Ärztin ganz einfach auf seinem Austrittsblatt auf die Medikamente, und als Lamin Fatty mit dem Daumen hoch zeigte, interpretierte sie, dass er diese eingenommen habe.
Die Information, dass er auf diese Medikamente angewiesen war, wurde nirgends vermerkt und auch nicht an die Beamt:innen weitergegeben. Lamin Fatty wurde lediglich aufgrund seiner starken Kopfschmerzen untersucht und die Möglichkeit eines epileptischen Anfalls wurde nur am Rande in Betracht gezogen. Zwei Pflegefachpersonen fanden den Patienten am Boden, als sie die Box nach einem ersten Gespräch erneut betraten. Sie legten ihn zurück ins Bett und untersuchten ihn auf mögliche Sturzverletzungen. Als sie nichts fanden, gingen sie davon aus, der Patient habe sich selbst auf den Boden gelegt. Beide Pflegenden gaben zu einem späteren Zeitpunkt an, die deutlich sichtbare Narbe an Lamin Fattys Kopf nicht bemerkt zu haben, was starke Zweifel daran aufkommen lässt, wie genau diese Untersuchung durchgeführt wurde. Die Tatsache, dass Lamin Fatty auf dem Boden lag, interpretierte eine involvierte Pflegefachperson dahin gehend, dass dies für Migrant:innen normal sei, weil diese sich am Boden in Sicherheit fühlten.
Inzwischen sind 5 Stunden ohne Antiepileptikum vergangen.
Bei Lamin Fatty wurde schliesslich eine Nasennebenh.hlenentzündung diagnostiziert – ohne wirklich mit dem Patienten sprechen zu können. Er wurde am 23. Oktober 2017 um 6 Uhr morgens zuhanden der Kantonspolizei Waadt entlassen. Ihm wurden Ibuprofen, Dafalgan und Antibiotika verschrieben – keine Antiepileptika. Das entsprechende Rezept wurde den
Polizist:innen ausgehändigt mit dem Hinweis, dass Lamin Fatty die Medikamente einnehmen und das Rezept im Falle einer Inhaftierung dem Pflegepersonal im Gefängnis ausgehändigt werden müsse. Im Gespräch erwähnten die Pflegefachkräfte weiter, dass sie sich nicht sicher seien, ob Lamin Fatty verstanden hat, wofür die Medikamente seien. Vom lebenswichtigen Antiepileptikum war weder die Rede noch wurde dies irgendwo schriftlich vermerkt.
Inzwischen sind 10 Stunden ohne Antiepileptikum vergangen.
Vom Spital ins Gefängnis
Nach der Entlassung aus dem Spital brachten zwei Polizeibeamte Lamin Fatty
auf den Polizeiposten La Blécherette. Dort sollte er bis zum Transfer nach
Luzern – geplant am gleichen Tag um 11 Uhr – bleiben. Beim Eintritt ins Gefängnis
erstellten zwei andere Beamte den Haftbericht, die Anzeige wegen Verstoss gegen das Betäubungsmittelgesetz und die Papiere für die Überstellung nach Luzern. Trotz Vorliegen der Nothilfebestätigung unterliessen auch sie es, die Identität des Inhaftierten zu überprüfen, und bemerkten nicht, dass die Identifizierung durch die Grenzwache fehlerhaft war. Die Kantonspolizei Waadt konfrontierte Lamin Fatty mit den Unterlagen. Er wusste nicht, was «Luzern» ist. Die Beamten erklärten, dass dies eine Schweizer Stadt sei. Sie waren der Ansicht, Lamin Fatty habe sie verstanden. Der Transport nach Luzern wurde wegen Platzmangel um einen Tag verschoben. Lamin Fatty wurde darauf in einer videoüberwachten Zelle untergebracht. Die für die festgehaltenen Personen auf dem Polizeiposten zuständige Pflegefachperson erhielt das vom CHUV ausgestellte Rezept, welches keinen Hinweis auf Epilepsie enthielt. Sie erkundigte sich in englischer Sprache bei Lamin Fatty, weshalb er die verschriebenen Antibiotika einnehmen müsse. Er antwortete, dass er diese gegen die Kopfschmerzen nehmen müsse. Die Frage, ob es weitere gesundheitliche Probleme gebe, verneinte er. Während der Einvernahme gibt die Pflegefachkraft später an, die grosse Narbe auf dem Kopf von Lamin Fatty nicht bemerkt zu haben. Trotz Antibiotika und dem Wissen, dass Lamin Fatty aus dem Notfall kam, konsultierte die Pflegefachperson das medizinische Dossier des CHUV, auf welches sie ohne Weiteres Zugriff gehabt hätte, nicht. Sie verabreichte Lamin Fatty die Medikamente gemäss Rezept. Allerdings gab sie ihm kein Antiepileptikum.
Lamin Fatty ist inzwischen 26 Stunden ohne Antiepileptikum.
Todeskampf in polizeilichem Gewahrsam
Am Morgen des 24. Oktober 2017 stand Lamin Fatty auf, frühstückte und nahm die verschriebenen Medikamente ein. Er legte sich wieder hin. Um 8.59 Uhr öffnete ein Polizist die Luke an der Tür und fragte ihn dreimal, ob er spazieren gehen wolle. Lamin Fatty reagierte nicht. Daraufhin öffnete der Beamte die Tür und fragte ihn erneut. Lamin
Fatty, der mit offenen Augen auf dem Bett lag, reagierte mit einem «Grunzen» oder «Murmeln», was der Polizist als Ablehnung interpretierte. Zeitgleich erkundigte sich ein zweiter Beamter danach, ob Lamin Fatty ihm etwas aus der Zelle mitgeben wolle für sein Gepäck. Auch er erhielt keine Antwort, glaubte jedoch, eine verneinende Bewegung
des Kopfes zu bemerken.
Lamin Fatty ist nun 48 Stunden ohne Antiepileptikum.
Die Zelle, in der Lamin Fatty inhaftiert war, ist videoüberwacht. Um 9.01 Uhr zeigen
sich die ersten Spasmen des epileptischen Anfalls, der mehr als 90 Minuten dauern
und zum Tod von Lamin Fatty führen wird. Bereits in den ersten Minuten des epileptischen Anfalls gleitet der zuckende Lamin Fatty vom Bett und bleibt in der Folge in Bauchlage am Boden der Zelle liegen. Während eineinhalb Stunden zuckt er immer
wieder, die Muskeln ziehen sich zusammen und entspannen sich wieder, es kommt
zu Umlagerungen respektive Positionsveränderungen. Ab 10.30 Uhr lassen sich keine
Bewegungen mehr wahrnehmen. Um 10.50 Uhr versucht ein Polizist durch die Luke, den angeblich schlafenden Lamin Fatty zu wecken. Nachdem dieser nicht reagiert, ruft er einen weiteren Beamten zur Unterstützung und sie betreten die Zelle. Schnell bemerken sie, dass sein Herz nicht mehr schlägt. Sie rufen die Ambulanz und beginnen mit einer Herzmassage. Um 11.00 Uhr trifft die Ambulanz ein, um 11.36 Uhr wird der Tod von Lamin Fatty festgestellt.
Verfehlungen und Unterlassungen
Eine unglaubliche Häufung von Verfehlungen, schludriger Arbeit und Unterlassungen
führten zum Tod von Lamin Fatty, aber in den Augen der Waadtländer Staatsanwaltschaft soll niemand daran schuld sein. In den Augen von augenauf Bern ist dieser Fall ein exemplarisches Beispiel für strukturellen und institutionellen Rassismus, in Verbindung mit gravierender Unachtsamkeit der beteiligten Beamt:innen bei der Ausübung ihrer Pflichten.
Da wäre die Grenzwache …
… die den Betroffenen falsch identifizierte und dabei in voller Absicht die Papiere ignorierte, die der Identifikation dienen sollten. Eine solche oberflächliche Prüfung der Identifikation und die damit einhergehende folgenschwere Verwechslung sollten in Zeiten von digitalen Datenbanken eigentlich nicht mehr möglich sein. Zudem unterliessen es die Beamt:innen, Abklärungen betreffend nötige Medikamente bei einer Festhaltung zu machen – obwohl dies vorgeschrieben ist und es der verhafteten Person
sichtlich schlecht ging.
Da wären die beteiligten Angestellten des CHUV …
… welche nicht willens waren, eine Übersetzung zu organisieren und so eine bessere Kommunikation zu ermöglichen. Sie gaben sich mit einer unvollständigen Anamnese zufrieden und machten sich nicht die Mühe, die Zusammenhänge aus früheren Behandlungen, der Epilepsie und den nun gezeigten Symptomen herzustellen. Weder die Person Lamin Fatty noch sein Patientendossier bzw. seine chronische Erkrankung wurden bei Anamnese und Diagnose berücksichtigt. Das Personal versäumte es, ihm seine lebensnotwendige Medikation zu verabreichen und zu verschreiben – schlimmer noch: Sie verschrieben ihm Antibiotika, die die Wahrscheinlichkeit eines epileptischen Anfalls erhöhen. Die fahrlässige Diagnose und die unpassende Medikation trugen massgeblich zum weiteren Verlauf von Lamin Fattys Sterben bei. Auch das Gesundheitspersonal begeht also eine folgenschwere Unterlassung. Diese lässt sich mit keinem Argument rechtfertigen. Auch die mangelnde Kommunikation und Aufklärung über die Gesundheitsrisiken ging auf Kosten des CHUV. Das Gesundheitspersonal nahm nicht nur keine korrekte Anamnese vor, sondern unterliess es auch, sicherzustellen, dass Lamin Fatty ausreichend über seine Krankheit und die verabreichten Medikamente informiert war. Lamin Fatty und die Polizist:innen wurden nicht korrekt über die mitgegebenen Medikamente und die damit verbundenen Risiken aufgeklärt. Später beriefen sich das medizinische Personal und die Behörden darauf, das medizinische Personal habe aufgrund des Arztgeheimnisses nicht über die chronische Epilepsieerkrankung informieren können und habe überdies keine Kenntnis davon gehabt, dass Lamin Fatty in Gewahrsam der Polizei entlassen werden wird.
Aus den Akten ist ersichtlich, dass es sich dabei lediglich um Schutzbehauptungen handelt: Kontinuierlich diskutierte die anwesende Kantonspolizei Waadt mit dem medizinischen Personal über den Gesundheitszustand von Lamin Fatty, das medizinische Personal gab bereitwillig Auskunft – von Beachtung des Arztgeheimnisses keine Spur! Aber selbst wenn das Arztgeheimnis aus Sicht des behandelnden Personals im Wege gestanden wäre: Lamin Fatty, der danebenstand, hätte einer Entbindung vom Arztgeheimnis ohne Weiteres zustimmen können. Sofern die behandelnden Pflegenden und Ärzt:innen behaupten, es sei ihnen nicht bewusst gewesen, dass Lamin Fatty nach seiner Entlassung in ein Gefängnis gebracht würde, liegt auch hier eine reine Schutzbehauptung vor: Der Datenbank liess sich entnehmen, dass die Kantonspolizei im Rahmen des Gesuchs zur Zusammenarbeit über die Entlassung von Lamin Fatty informiert werden müsse. Und: Vor dem Krankenzimmer standen durchgehend zwei Polizist:innen.
Da wären die Polizeibeamt:innen in La Blécherette …
… die in keiner Art und Weise überprüften, ob sie die korrekte Person inhaftiert haben. Selbst als Lamin Fatty die Stadt Luzern nicht zu kennen schien und obwohl er eine Bestätigung aus der Stadt Lausanne auf sich trug, hielten es die Polizeibeamt:innen nicht für nötig, genauer hinzuschauen. Auch die Pflegefachperson im Polizeiposten La Blécherette arbeitete ungenau: Sie konsultierte das medizinische Dossier des CHUV nicht, obwohl Lamin Fatty direkt aus dem Spital eingeliefert wurde. Zwar fragte sie nach dem Grund für die Verschreibung von Antibiotika, gab sich aber mit der Antwort von Lamin Fatty, diese seien gegen seine Kopfschmerzen, ohne Weiteres zufrieden – obwohl Antibiotika eigentlich kein Kopfschmerzmedikament sind und Lamin Fatty sich nur sehr schwer ausdrücken konnte. Auch die grosse, auf den ersten Blick ersichtliche Narbe am Kopf machte die Pflegeperson nicht stutzig. Die Verantwortlichkeit der Pflegefachperson wurde nie in einem strafrechtlichen Verfahren abgeklärt. Die Staatsanwaltschaft verkennt damit, dass es eben gerade Aufgabe einer Pflegefachperson in einer Haftanstalt wäre, Personen mit besonderen medizinischen Bedürfnissen angemessen zu betreuen. Dazu gehört eine Abklärung, ob chronische Krankheiten vorliegen oder weshalb bestimmte Medikamente eingenommen werden müssen. Auch der Beamte, der am 24. Oktober 2017 in Videokameras verantwortete, hatte Kenntnis davon, dass Lamin Fatty aus dem CHUV kam. Ungeachtet dessen widmete er Lamin Fatty keine spezielle Aufmerksamkeit. So sah er den Epilepsieanfall auf den Videoaufzeichnungen
nicht. Als er Lamin Fatty am Boden liegen sah, hielt er dies für nicht ungewöhnlich, da angeblich immer wieder Inhaftierte auf dem Boden liegen würden. Die Strafuntersuchung gegen den Beamten wurde mit der Begründung eingestellt, dass ihm das Übersehen des angeblich nur eine Minute und elf Sekunden dauernden Anfalls aufgrund seiner zahlreichen weiteren Aufgaben nicht vorgeworfen werden kann. Damit machen es sich sowohl der Beamte wie auch die Staatsanwaltschaft deutlich zu einfach. Die Videoaufzeichnung zeigt den Anfall in erschreckender Deutlichkeit und in voller Länge, weshalb der Beamte später angeben wird, dass er beim Ansehen der Aufnahmen im Rahmen des Strafverfahrens eine Gänsehaut bekommen habe.
Und da wäre die Staatsanwaltschaft …
… die in sämtlichen Vorkommnissen keine Pflichtverletzungen und kein strafrechtlich relevantes Verhalten sah. Die Polizei sei medizinisch nicht geschult und überlastet gewesen und habe daher die Vorkommnisse nicht korrekt interpretieren können. Das Personal im CHUV habe sich aufgrund des Arztgeheimnisses nicht besser über den gesundheitlichen Zustand von Lamin Fatty äussern können. Deshalb konnten die Beamt:innen in La Blécherette folglich auch nicht auf einen epileptischen Anfall schliessen. Sie seien stark ausgelastet und hätten ein zu gedrängtes Aufgabenheft, weshalb das anwesende Personal die kurze Episode des Anfalls nicht sah. Mit diesen Schutzbehauptungen drückt sich die Staatsanwaltschaft vor der Arbeit einer genaueren Untersuchung und schützt gleichzeitig die involvierten Beamt:innen vor der Strafverfolgung. Der tragische Tod von Lamin Fatty ist das Resultat einer ganzen Kette von Unterlassungen, Verwechslungen und schludriger Behördenarbeit. Die behördliche
Interpretation der Vorfälle durch die Rassismusbrille liess zu, dass ein Mensch starb. Und einmal mehr ist niemand dafür verantwortlich und niemand wird schuldig
gesprochen. Dank Beschwerde der Familie gegen die Einstellung des Verfahrens muss zumindest gegen einen Polizeibeamten das Verfahren nochmals aufgerollt werden. Wir bleiben dran. Unsere Anteilnahme gilt der Familie und den Freund:innen von Lamin Fatty.
augenauf Bern